Rutishauser/Kuhn. Eine neue Schwarzrede

Text aus: Rutishauser/Kuhn. SPRACHblock 2 im Rahmen des Projekts Rutishauser/Kuhn sprechen über ihre Arbeit, Kreuzlingen 1994

 

 

Eine neue Schwarzrede, Erster Teil
Eine neue Schwarzrede, Zweiter Teil

 

 

eine neue schwarzrede: erster teil.

sie hören nun eine schwarzrede.
was ist eine schwarzrede? ist dieser titel programmatisch oder metaforisch, oder handelt es sich um eine rede über schwarzafrika? vielleicht ist die schwarzrede im übertragenen sinne schwarz, vielleicht schwarzhumorig, vielleicht schwarzgallig, vielleicht auch pessimistisch?
diese schwarzrede ist formal schwarz!
sie ist formal schwarz, ich sage es ihnen gleich, denn gesprochen wird über etwas anderes:
- gesprochen wird über das sprechen und die sprache,
- gesprochen wird über den unterschied zwischen dem schreiben und dem halten der rede, also zwischen der mündlichen und der schriftlichen rede. rede? rede ich schriftlich, schreibe ich. die transkription eines tonbandes ist kein geschriebener text, schreibt flusser. also doch: die schriftliche rede.
- gesprochen wird über den unterschied zwischen der oralität, der freien, nicht schriftlich vorbereiteten rede, und der literalität, der möglichkeit, das gesprochene schriftlich zu fixieren, haltbar zu machen.
- gesprochen wird über die zweidimensionale rede, die sich auf dem papier ausbreitet und im kopf dessen, der sie liest und
- dann auch über die dreidimensionale, was sage ich, mehrdimensionale rede, die sich frei formuliert oder vom blatt weg in den raum begibt, kurz hängenbleibt und weg ist; mehrdimensional auch darum, weil ein redner hinter den worten steht, der gestikulierend das gesicht verzieht, wenn er spricht.
hier beginnen die probleme schon, sie haben es bemerkt: wir halten eine rede! niemand hält eine rede, eine rede wird gesprochen, geredet, in der hoffnung, es sei kein gerede, was da gesprochen wird und möge doch ins gerede kommen, schliesslich kommt es mit dem aussprechen seitens des redners zur sprache, möge besprochen werden anschliessend, nicht abschliessend, möge gesprächsstoff liefern, dergestalt, dass nicht nur das thema, sondern auch der redner, der persönlich zu seiner rede steht, der persönlich dasteht um seine rede zu sprechen, im gespräch bleibt. welcher redner würde es verleugnen?: dass er die rede spricht, die er ja auch selber geschrieben hat, ist kein zufall, schliesslich sind es seine worte, seine wörter, die er an seine zuhörerinnen und zuhörer richtet; schliesslich liegt es in seinem interesse, dass er die rede spricht und jetzt, in diesem sinn auch hält (wenn er sich an die rede hält).

ich habe es bereits angedeutet, und schliesse damit die einleitung und komme zum thema: die schwarzrede soll unter anderem vom sprechen handeln, also von der sprache:
sprache ist primär gesprochene sprache.
nur so hat sie etwas mit uns zu tun, die wir sie sprechen. steht sie geschrieben, zum beispiel, oder gedruckt, haben wir uns von ihr distanziert, haben sie, übersetzt in zeichen, liegengelassen, haben sie aus den händen gegeben. wir würden es nicht ableugnen einen, vielleicht diesen text geschrieben zu haben, im normalfall aber, wenn wir einen text beendet haben, der letzte punkt gesetzt ist, dann ist es aus: alle leserinnen, alle leser, die unsern text in die hand, vor die augen bekommen, werden ihn zu ihrem eigenen text machen, nicht handgreiflich selbstverständlich, sondern selbstverständlich, weil sie mündig sind und sich ihren teil denken beim lesen.
der autor gibt nach dem letzten punkt einen absolut bedeutungslosen text aus der hand, eine lineare zeichenabfolge, laute, die er sich vorgesprochen hat, die er sich gedacht hat, die er dann in zeichen übersetzt, geschrieben hat, die nichts mit diesen lauten zu tun haben, die sie vertreten; schrift, die nichts mit der sprache, mit der gesprochenen sprache gemein hat, die ihr vorspricht.
«eine vokabel spricht (nur), wenn sie gehört (gelesen) wird, nicht ohne hörer (leser)», heisst es bei dieter roth.
texte bleiben solange bedeutungslos, bis jemand sie sieht, bis jemand sie wahrnimmt, für wahr nimmt, bis jemand sich die mühe nimmt, sie zu sprechen, sei es laut oder leise und versucht, sie zu verstehen.

dass wir uns richtig verstehen: versucht sie zu verstehen, nicht zu deuten, zu interpretieren, nur versucht, die informationen aus dem geschriebenen zu entnehmen; die sachinformation zum beispiel, oder versucht, der erzählten geschichte zu folgen, um sie zum beispiel später nacherzählen zu können.
dann, wenn jemand die texte bedenkt, sich seine gedanken macht zu den texten, dann machen sie wieder sinn.
der autor, oder sagen wir, der schriftsteller, ist demnach einer, der die schrift, das ist, was er schreiben, wir sagen, was er sagen will, niederlegt, zur verfügung stellt, ein schriftsteller eben, ein schriftleger, besser ein autor, ein urheber, ein gründer, ein niederleger.
in diesem sinn, und nur in diesem sinn, steht der autor, der das wort auf das papier oder am bildschirm schreibt, von dem moment an, in dem er das wort niedergeschrieben hat, in einem distanzierten verhältnis zur sprache, die er benützt hat; der sprechende mensch aber hat unmittelbar mit sprache zu tun.

als rohmaterial dient ihm sein wortschatz, sein auszug aus dem wörterbuch. die rede, die er hält, hat er kombiniert, zusammengestellt und spricht sie jetzt. die laute, die er dabei spricht haben mit dem besprochenen nichts zu tun. die wörter, die er aus diesen lauten zusammensetzt, spricht er in die welt, er spricht sie in die umgebung hinaus, bald umgeben ihn seine wörter, oder besser der lärm, den er mit seinen wörtern macht, indem er sie hinausruft; aber dann ist es auch schon vorbei (das hatten wir vorher schon und trotzdem muss ich es immer wieder sagen): gesprochene wörter werden gesprochen, sie verklingen und sind weg.
der sprechende mensch sucht sich seine wörter, bildet sätze, spricht in einem fort und verliert immer gleich, was er gesprochen hat.
die wörter die er ausspricht, hat er in seiner mund- und rachenhöhle geformt, aus der luft, die er durch den kehlkopf gestossen, sozusagen ausgeatmet hat. die schwingenden stimmbänder, die gelockerten langsamer, die gespannten schneller schwingend, haben dazu die töne geliefert, mit den lippen und der zunge und den zähnen hat er die laute gebildet.
sind die laute erst einmal gebildet und zu wörtern zusammengehängt, dann kann die sprechproduktion beginnen. indem der sprechende mensch wörter aneinanderfügt, syntaktischen und grammatikalischen regeln entsprechend, will er sinnvolle sätze bilden. der sprechende mensch will eine mitteilung machen, die ein zuhörender verstehen kann, der er den sinn entnehmen kann.
jetzt kann verstehen auch bedeuten: das bemühen des zuhörenden, die information aus dem gesagten, mit den nonverbalen äusserungen des sprechenden verknüpft, zu deuten, oder das gesagte als teil der geschichte des sprechenden zu interpretieren.
ob sein gegenüber ihn verstanden hat, wird er nie restlos klären können, auch wenn ihm versichert wird, er sei verstanden worden, muss der sprechende sich bewusst sein, dass er nicht verstanden wird. wer könnte ihn schon verstehen?

wie kommen aber die bedeutungen der wörter zustande?
die wörter erhalten ihre bedeutungen in mehrschichtigen prozessen, werden als hülsen beseitigt und kommen plötzlich mit neuer bedeutung wieder in den verkehr. als erstes scheint es, dass die wörter, wie immer sie auch entstanden sein mögen, ihre bedeutung aus einem hinweis erhalten, einem hindeuten, einem zeigen auf einen gegenstand, aus dem bezeichnen eines beobachtbaren vorganges, aus der beschreibung, das heisst der besprechung, auch eines abstrakten begriffs. eines begriffs, der auf diese weise zu begreifen sein muss, anzutasten, der antastbar, betastbar, erfühlbar sein muss. dann werden die wörter gebraucht, ausgesprochen und in zusammenhang gebracht, und im zusammenhang muss ich lernen, was mein gegenüber unter einem wort versteht, was in ein wort projiziert erscheint. wenn ich diese anstrengung auf mich nehme, seine wörter in seinen sätzen zu entschlüsseln und mit meinen wörtern, die ich homonym für etwas anderes brauche, übereinzubringen, dann kann ich mein gegenüber (wenigstens annähernd) verstehen.
diese anstrengung werden allerdings nur wenige unternehmen, wenn ein gespräch über das austauschen alltäglicher informationen hinausgeht und sich in gebiete hinaus- und hineinwagt, die nicht mehr so einfach abzuhandeln sind, wie der alltäglich kommunikative austausch, zum beispiel über das wetter. der zuhörer eines monologs wird es nach einiger zeit, nur schon mangels konzentration, aufgeben müssen, den wörtern zu folgen und wird sich mit den groben zusammenhängen zufriedengeben. desgleichen die zuhörer und zuhörerinnen einer rede, auch einer rede über das sprechen und das zuhören.

das schreiben der rede im hinblick auf das sprechen des textes vor einem publikum, also der geschriebene text der rede, der dann gesprochen wird, wäre in der umkehrung von flussers these, die eingangs zitiert worden ist, in der gesprochenen form, keine mündliche äusserung, kein mündlicher vortrag, weil er als geschriebener text unmöglich den regeln der mündlichen rede folgen kann. die mündliche rede folgt, auch im kopf vorbereitet, andern regeln: der redner greift auf kein schriftliches manuskript zurück, muss sich also an andere merkpunkte halten: das wird seine rede beeinflussen; sie wird durchlässiger sein, redundanter auch, sie wird sich öfter wiederholen, spontaner wird sie sein, indem sie zum beispiel auf reaktionen aus dem publikum eingeht; die mündliche rede wird sich besser dem publikum anpassen und verständlicher sein, weil sich der redner mit seiner rede in entwicklung befindet, wie der hörer, der stück für stück in die erzählung vordringt. der redner, der seine rede konzipiert und geschrieben hat, wie ich zum beispiel, wird weniger flexibel sprechen. er wird unverständlicher sein, weil die schriftliche vorbereitung ihm erlaubt, die eigenen gedanken, bevor er sie ausspricht, zu überarbeiten, was schriftlich zwar überschaubar bleibt, mündlich aber nicht mehr nachvollziehbar ist.
er wird auch versuchen, sich an sein typoskript zu halten, schliesslich hat er sich alles genau zurechtgelegt, punkt für punkt aufgelistet und ist jetzt im begriff, punkt für punkt wieder abzuwickeln, so wie er es vorbereitet hat.

hält der redner nun eine rede, oder liest er einen text? die frage ist nicht zu beantworten. das wissen um den mündlichen vortrag wird ja wohl sein schreiben beeinflusst haben.
er bringt seine gedanken, die ihm aus dem kopf durch die hand aufs papier geflossen sind, nun, indem er sie spricht in die dritte dimension und hält damit, wie oben angedeutet eine mehrdimensionale rede: seine rede steht im raum und - ist vorbei!

die rede hat der redner kompiliert, ingold würde sagen, zusammengeschnitten: so ist der redner, der autor der rede, zu verstehen, als disponent und arrangeur, schreibt ingold, der das bei der zufälligen und systematischen lektüre anfallende textmaterial rekapituliert und arrangiert, und das material dann kompiliert und kombinatorisch verknüpft.

max bense schreibt: ‹literatur möchte dem provisorium der sprache dadurch entgehen, dass sie sich über sie erhebt, text dadurch, dass er sie manifestiert.›
er beschreibt text als faktum, seine literarische bedeutung als interpretationsfrage.
das faktum text ist in der schwarzrede von zweifacher bedeutung: einmal liegt die rede schriftlich vor, wird mündlich gehalten: «text ist alles, was aus sprache gemacht werden kann.»
dann haben wir es mit einer art metatext zu tun, indem der text inhaltlich die form kommentiert, die form auf den inhalt rekurriert, indem sie die ausführung des textes als gebrauchsanweisung ist.
wir haben es also mit dem text und seinem kontext zu tun. dem text: geformt vom autor, der materiell brachliegt und in seiner ausgestaltung, inhaltlich durch sich selber angewiesen, in einen zustand inhaltlich-formaler verdichtung kommt. dem kontext: der den text nicht nur erschliesst, sondern der in einer metatextebene, der text selber ist.
dass wir den text selber in diesen kontext gebracht haben, dass wir ihn, während er zerfällt, seinen zerfall beschreiben lassen, dass wir ihn, während er langsam unverständlich wird, diesen prozess des langsam unverständlichwerdens beschreiben lassen, dass wir ihn, während er verkommt, sein verkommen (seine verkommenheit) beschreiben lassen, ist selbstverständlich unser kalkül: es ist der punkt unseres spezifischen interesses: die untersuchung der sprachlichen, schriftlichen wie lautlichen, reaktion des textes beim zerfall.

 

 

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eine neue schwarzrede: zweiter teil.

wir stehen hier und halten eine neue schwarzrede.
im zweiten teil der schwarzrede bietet sich nun gelegenheit ein paar grundsätzlichen fragen, die sich formal mit der schwarzrede, dem halten einer schwarzrede beschäftigen, nachzugehen.
sie sind der schwarzrede gefolgt. sie haben versucht, den worten des redners informationen zu entnehmen. der redner müsste keine schwarzrede, und auch keine andere rede halten, wenn er nicht etwas mitzuteilen hätte. bald haben sie festgestellt, dass die fehler, die sich in den vortrag der rede eingeschlichen haben, und die sie anfänglich als versprecher durchgehen liessen, sich häuften, schliesslich unüberhörbar wurden, die rede zunehmend beherrschten und dann sogar ein folgen, ein inhaltliches verstehen, verunmöglichten. am anfang haben sie zugehört, haben die rede aktiv mitverfolgt. am schluss der rede haben sie gehorcht: sie haben den gesang entleerter wörter aufgenommen.
in diesem zweiten teil der schwarzrede soll
- von der funktionsweise des ersten teils und damit automatisch auch des zweiten teils der schwarzrede die rede sein.
- dann soll die rede sein von der entleerung der rede. schliesslich geht es um
- das hören und horchen, also um die zuhörerin und den zuhörer.

sie haben den ersten teil der schwarzrede gehört, hören jetzt den zweiten teil. sie haben bemerkt, dass mit dieser rede etwas nicht stimmt und haben versucht herauszufinden, woran es liegen könnte, dass sie zunehmend schwierigkeiten mit dem verständnis hatten. akustisch war die rede aber durchaus verständlich, wir geben uns mühe, verständlich zu artikulieren. wir haben uns auch die mühe gemacht, uns verständlich auszudrücken und syntaktisch nicht zu kompliziert vorzugehen. hier liegt zwar schon ein problem: der stil des redners, mit dem zurechtzukommen manchmal recht schwierig sein kann. wir hoffen nicht, dass das ein zusätzlicher grund für die unverständlichkeit war.
der hauptgrund für das zunehmende unverständlichwerden liegt in den manipulationen an der schwarzrede.

die schwarzrede wurde wie folgt aufgebaut: jeweils nach einer bestimmten zeilenzahl, im vorliegenden fall immer nach 10, dann nach 5 zeilen, wurde eine neue streichung eingeführt, einzelne buchstaben wurde entfernt und durch entsprechende pausen ersetzt. auf diese weise durchsetzt der text sich, wie sie zweifelsohne selbst festgestellt haben, mit pausen, vorerst kurzem, dann längerem schweigen, bis er vom schweigen verdrängt wird und verstummt. als einzige laute bleiben die vokale zurück: selbstredend, selbstlautend, selbstsicher verteidigen sie die rede, gegen das grosse, absolute schweigen.

bei der anwendung der manipulationen waren wir bemüht, die entleerung des textes nicht strengen alfabetischen regeln zu unterwerfen, sondern die streichungen den strukturen der sprache entsprechend so anzupassen, dass sich der text möglichst kontinuierlich entleert. dabei wurde zum beispiel das -t in der endung konjugierter verben ab zeile 20 als erstes fallengelassen, was vorerst zur akustischen täuschung eines versprechers seitens des redners führt, sie haben es bemerkt.
als weitere endungen wurden ab zeile 50 alle -er und alle -t (auch bei substantiven usw.) weggelassen, dann ab zeile 70 -en, ab zeile 100 -el. die bis zur hälfte des textes verfolgte absicht, den text, trotz gleichmässiger entleerung, so lange wie möglich verständlich zu halten, um die zuhörerin und den zuhörer mit der thematik vertraut zu machen, wurde ab zeile 80, zugunsten der vorführung des immer melodischer, aber unverständlicher werdenden textes, aufgehoben. so wurden zum beispiel die doppelkonsonanten wie -ff-, -ll-, -ss-, -nn-, -mm- , und die vorsilben in regelmässigen abständen gestrichen.

im verlauf der rede wird die zuhörerin, der zuhörer an dialekte, vielleicht ans mittel- oder althochdeutsche erinnert. wie bei solchen alten texten, bleibt auch in der schwarzrede der sinn, die begriffliche aussage, stellenweise erhalten, erahnbar. erst nach und nach entstehen neue, durch die verstümmelung unkenntlich gewordene worte, deren verständnis auf der begriffsebene versiegt. es entsteht ein neuer inhalt, eine sinnverschiebung tritt ein, die sprache, die rede entfernt sich vom formulierten text - geräusch- und lautfolgen gewinnen die oberhand über die wörter - und wird zu einem onomatopoetischen gesang.
das mitdenken des rezipienten wird zum reinen hinhören. an einem gewissen punkt setzt das bemühen aus, dem begrifflich unzugänglich werdenden grundtext zu folgen, der zuhörer gibt sich dem klang der immer vereinzelter auftretenden laute und wortfragmente hin. er versteht die rede auf einer neuen, sinnlicheren ebene und denkt weiter.

das auffälligste merkmal der schwarzrede ist ihr formales verkommen, ihre entleerung. so, wie die schwarzrede über ihre entleerung, über das sprechen spricht, so entleert sie sich formal und verstummt zusehends, bis sie in schönem schweigen ausharrt und wir uns aufatmend zurücklehnen können, weil wir den wortsinn, die begrifflichkeit hinter uns haben, weil uns niemand mehr nötigt, der rede zu folgen, um nachher rechenschaft ablegen zu müssen, zum beispiel über das verstehen und weiterdenken. wir hören die sprache, ohne sie verstehen zu müssen.
«die streichung ist der verlust des althergebrachten, ist der gewinn neuer möglichkeiten. die streichung ist die befreiung der sprache, das versiegen des redeschwalls in sich selbst.»
gerhard rühm schreibt in den bemerkungen zu seiner abhandlung über das weltall 1966: «die handlung (des textes), die zu einer abhandlung wird, (ist) trotz zunehmender entropie noch ziemlich lange verfolgbar. zuerst störend im sinne des versprechens, dann immer einsichtiger als prinzip herausschälend, tritt eine semantische trübung ein, kontextfremde, mehrdeutige und begriffsleere wörter entstehen. aus dem kontext werden vom hörer, gleichzeitig mit einer assoziativen ausweitung, mehr oder minder unwillkürlich die entsprechenden korrekturen vorgenommen, bis der semantische bereich bis zur unkenntlichkeit verwischt ist. [...] der text (wird) unverständlicher und gleichzeitig gegenständlicher, elementarer, die lautgebilde bezeichnen nicht mehr begriffe, repräsentieren nicht mehr, sondern stehen für sich selbst, präsentieren phänomene jenseits der reflexion.»

im ersten teil der rede wurde der sprecher als verfasser der rede beschrieben, die rolle der hörerin, des hörers blieb dabei im dunkeln.
von der schallquelle, sagen wir, von meinem mund aus, breiten sich einander überlagernde dichtewellen verschiedener frequenz als schallwellen aus, die bei den hörerinnen und hörern eine schallempfindung hervorrufen. da die schallwellen bei der ausbreitung schwächer werden, sind sie in zeitlicher und räumlicher distanz von der schallquelle zunehmend schlechter wahrnehmbar. im vakuum ist die ausbreitung des schalls nicht möglich. was nun natürlich interessiert, ist, was passiert, wenn die schallwellen auf den menschlichen körper auftreffen.
flusser schreibt dazu in seinem text über die geste des musikhörens, dass die musik den körper durchdringen und ihn in schwingung versetzten, dass sie ihn in ganz physischem sinn ergreifen kann. so nimmt der körper die musik des textes, den text als musik auf.
einzelne klangsegmente werden in ihrer klangstruktur als wörter erkannt und verstanden, verknüpft und interpretiert. sie werden als zuhörerin, als zuhörer sagen, wir haben verstanden, was der redner mit seinen wörtern sagen wollte, was der redner gemeint hat. sie haben die information entnommen. mit der information haben sie dem text und der art, wie er vorgetragen wurde, noch viel mehr entnommen: der redner hat langsam und schnell gesprochen, hat in der tonhöhe und stimmlage variiert, hat betonungen gemacht, wo ihm dies zum textverständnis, oder zur führung des publikums nötig schien, er hat gesichter geschnitten und gestikuliert. alles zusatzinformationen, auf die sie hätten verzichten müssen, wenn der redner zu beginn ein büchlein mit der gedruckten rede verteilt hätte.
>sie haben sich zurückgelehnt und der rede zugehört, ich habe am anfang darauf hingewiesen, sie haben die rede aufmerksam mitverfolgt, sie haben aktiv mitgehört. ein aktives mithören verlangt konzentration. das interesse am behandelten thema ist voraussetzung für die aufzubringende bereitschaft, sich auch darauf einzulassen. im verlauf der rede, mit wachsendem unverständlichwerden der worte, verlieren sie als zuhörerin und zuhörer an konzentration und werden bald aufgeben, in den stummelworten noch bedeutung suchen zu wollen. sie haben das zuhören aufgegeben und horchen der rede wie einem musikstück.

was aber tut das publikum, was tun die zuhörer und zuhörerinnen, die die schwarzrede hören?
walter ong schreibt in seinem buch literalität und oralität/ die technologisierung des wortes folgendes: «das gesprochene wort verwandelt menschliche wesen in zusammengehörende gruppen. wenn sich ein redner an ein publikum wendet, dann bilden die zuhörer normalerweise eine einheit, untereinander und mit dem redner. wenn ein redner das publikum ersucht, eine ausgeteilte stellungnahme zu lesen, und somit jeder leser bzw. jede leserin in seiner/ ihrer lektüre versinkt, dann zerbricht die einheit des publikums. [...] es gibt keinen sammelnamen oder -begriff für leser, der demjenigen des publikums korrespondiert.»
so wie sie jetzt hiersitzen, sind sie demnach eine einheit. sie sind gekommen, weil sie am geschehen, das sie heute und hier erwartet in irgendeiner weise interessiert sind. wenn ihre erwartungen enttäuscht werden, werden sie während der vorstellung aufstehen und gehen. sie sind dann ausgebrochen aus dieser einheit. wenn sie trotzdem sitzenbleiben, waren sie zu schwach, sind sie zu schwach, sich aufzulehnen. was sie wahrscheinlich nicht tun werden, weil sie dann blossgestellt wären. also bleiben sie besser sitzen, sie könnten etwas verpassen.
über dieses publikum ergeht die schwarzrede, diese zuhörerinnen und zuhörer hören sich diese neue schwarzrede an: die zuhörerinnen und zuhörer haben einen guten teil der arbeit an dieser schwarzrede geleistet: sie haben die rede gehört, sie haben sich die rede angehört, sie haben sie zu ihrer eigenen rede gemacht. in ihr assoziierendes mithören und mitdenken hat sich niemand einmischen können, am allerwenigsten ich, der redner. das einzige was ich tun konnte, und das mit absicht, ich habe ein material geliefert, dass die mitarbeit der hörerinnen und hörer nicht nur fördern, sondern unumgänglich machen würde.

zuerst ist diese rede als rede, die an ein publikum gerichtet ist, für den autor und redner schon verloren, dann ist sie auch formal die rede des publikums, die enteignung des autors und redners durch die hörerinnen und hörer ist im konzept bereits angelegt: jede hörerin und jeder hörer hört in jedem fall die eigene rede und nicht die des redners.
die schwarzrede, unanhängig davon, wie sie verstanden oder interpretiert wird, von mir, dem redner aus beurteilt, befasst sich mit sich selber: mit dem entstehen der wörter, sprachgeschichtlich, akustisch, in meinem, des redners, mund, mit dem entstehen von zusammenhängen und mit dem eindringen in die sprache.
kommt man, wenn man die sprache, indem man sie systematisch zerfallen lässt, blosslegt, tiefer in die sprache hinein? erfährt man auf diese weise etwas über die sprache und ihre funktionsweise?

die enge verquickung von form und inhalt, den vorgang, den am text zu vollziehen wir im begriff sind, im selben text beschrieben, macht die schwarzrede zu einem text über texte, zu einem text über den einen text: texttext, textext, den text aus sich selbst.

 

 

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