Rutishauser/Kuhn. Museum für zeitgenössische Kunst

Text aus: Rutishauser/Kuhn. Museum für zeitgenössische Kunst, Performative Lesung (anlässliche der 7. Performancekonferenz am 5. März 1999 im Kunsthaus Glarus)

 

 

1. Das Museum als Kunstprojekt

In der zeitgenössischen Kunst ist der Kontext immer ein entscheidender Faktor. Die Kunst allgemein wird zum Gefäss verschiedenster Kontexte, zwischen denen sich intensive Verbindungen sowohl formaler wie auch inhaltlicher Natur bilden. In manchen Werken wird diese inhaltlich-formale Vernetzung überdeutlich herausgehoben. Auf diese Weise wird in einer ungeheuren Vielschichtigkeit, interdisziplinär verflochten, in einer reichen Vielfalt an Verfahren, Konzepten, Materialien und Gattungen ein von Grund auf universales und eindringliches Denken entwickelt. Während Ausstellungen zeitgenössischer Kunst durchaus dinghaft bei sich bleiben [1], tasten sie vor allem ihre konkreten Kontexte ab, die sie als Projektionsfläche benötigen und zugleich mit- und reinszenieren. Dass dabei auch die antiquierten Möglichkeiten des statuarischen Bildes minutiös und durchaus ironisch benutzt werden, versteht sich von selbst. Allein über die Anschauung lässt sich aber nicht viel aus Ausstellungen zeitgenössischer Kunst herausholen [2], da sie nicht primär auf die Schaulust der Betrachtenden abzielt, sondern auf Kontexte verweist. Doch wer die Möglichkeit nutzt, sich mit dem begrifflichen Zusammenhang auseinanderzusetzen, kann eine neue spannende Möglichkeit erkennen, aus dem Dilemma einer sich selbst reproduzierenden Kunst herauszutreten und Perspektiven für neue Interventionsformen zu finden.

Das Projekt MZK Museum für zeitgenössische Kunst nun versucht die Frage zu erörtern, was zeitgenössische Kunst ist oder was es sein könnte. Soll sie zum Beispiel die Geschichte der jüngeren Vergangenheit vorführen oder zeitlose Erfahrungen ermöglichen, soll sie versuchen mit ihren präzisen Anordnungen dem Publikum etwas vorzuführen, elementare Assoziationen zu vermitteln, soll Kunst eine eigene Welt erschaffen, oder in den Alltag der Betrachtenden eindringen? Als zentrales Anliegen streicht das Projekt die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, zum Teil sich konkurrenzierender künstlerischer Haltungen heraus, die ohne weiteres nebeneinander stehen können, denn an die Stelle der hehren Kunst ist eine Art Lebensgefühl getreten, in dem Anspruch und Professionalität mit Trivialität und Alltag verschmelzen. Trotzdem ist Kunst kein Synonym für Alltag. Kunst hat ihren Kontext im Alltag. [3] Wenn man heutzutage von Kunst spricht, bezieht man sich auf eine Vielzahl von Kontexten, die auf die Kunst eingewirkt haben.

Das Projekt MZK verbirgt viele Projekte. So wird zwar weder der Überblick noch die Verabschiedung leicht gemacht, der verlangte neue Blick ist aber ein durchaus moderner: er besteht auf Autonomie, Innovation und Perfektibilität, schottet sich gegen andere Künste ab und nimmt die Strukturen der Vermittlung als gegeben hin. Museum für zeitgenössische Kunst ist ein Projekt, das nicht nur die Grenzen zwischen Funktion und Fiktion fliessend macht, sondern auch die Relation von Kunst und Kontext neu hinterfragt, indem es Anlass und Schauplatz einer eingehenden Beschäftigung mit der Sprache im Kunstkontext ist und sich in diesem Interesse auf Sprache und Kommunikation im Kontext der Kunst und ihrer Rezeption konzentriert.

Das Museum für zeitgenössische Kunst ist als Forschungsprojekt im Bereich Kunst, Kunstkritik und -theorie, Text und Textproduktion angesiedelt und entwickelt neue Positionen zu den veränderten Produktionsbedingungen aktuellen Kunstschaffens. Die Arbeit des MZK besteht im wesentlichen in der Besprechung seiner eigenen Tätigkeit. [4] Die Besprechung der eigenen Arbeit wird im MZK als Werk exponiert und konstituiert das Museum. Die Darstellung und Bearbeitung kontextfremder Themen als künstlerische Themen bringen dabei die Kunst selbstreflexiv als System ins Bewusstsein. Zur Durchführung dieses Anliegens werden Texteinheiten aus Kunstkritik und -theorie, die aus verschiedenen Publikationen isoliert und gesammelt werden, zu einem sich stetig erweiternden Archiv ausgebaut, welches die Grundlage bildet für eine vielfältige Wiederverwendung und -verwertung des Materials. Scharf konturierte, aus ihrem Kontext isolierte Schriftzüge werden zu bissigen, ironischen Kommentaren montiert und auf Plakaten oder als grossflächige Beschriftungen sowohl im öffentlichen wie auch im musealen Rahmen gezeigt. Das Instrumentarium des MZK beinhaltet dabei in einem traditionellen Sinne kunstfremde Strategien, wie die der Recherche und der Kommunikation. Es kommen verschiedenste Verhältnisse von Bild und Sprache, Raum und Zeit, Realität und Fiktion zustande und konfrontieren die Betrachtenden auch mit der Frage nach dem eigenen Standort. Betrachtungen sind abhängig von der Betrachterposition, deren Blickwinkel einzigartig ist. Entsprechend differiert die Wahrnehmung [5] von ein und demselben Objekt, was im Falle des MZK noch verstärkt wird, wenn es sich um Text, zumal um die selbstreflexive Besprechung der Intervention selber, handelt.

Das Museum für zeitgenössische Kunst ist in verschiedenen Bereichen tätig: In Performances, das heisst in performative Lesungen und Vorträgen wird versucht das Museum als virtuelles, das heisst als denkbares Museum zu entwickeln. Die Kategorien reichen vom Theoriediskurs bis zum Reisebericht. Mit dieser lapidaren Taktik springt das MZK spielerisch aus der Enge traditioneller Sparten und öffnet sich einen Weg, um die verschiedensten Präsentationsformen zu kombinieren und macht letztlich den Vortrag zur Ausstellung. Das Ziel jeder Inszenierung des Museums in realen Räumen besteht darin, eine künstliche Umgebung zu schaffen, die aus den visuellen Bestandteilen unserer Umgebung aufgebaut ist. Die wiederholte Verwendung der immer gleichen Bauteile, hier in Form von Sätzen und Textversatzstücken, weist auf die Zeichenhaftigkeit und Vieldeutigkeit unserer Umgebung hin. [6] Gleichzeitig wird auf diese Weise aber auch ein fundamentales Misstrauen gegenüber dem Bild, der Sprache und der tradierten Rolle der Kunst formuliert. Als Antwort auf die inflationäre Bildlichkeit der Medienwelt wird ein eigentlicher Bilderstreit vom Zaun gebrochen, der heute im Angesicht des digitalen Zeitalters aktueller denn je erscheint.

Erst bei genauerem Betrachten löst sich das komplexe, ganzheitliche System wieder in die primär zusammenhangslosen Einzelteile auf. Erst bei genauerem Zuhören sind die zu einer fliessenden Rede montierten Einzelteile [7] wieder als solche erkennbar. Dieses System verbindet sich zum Beispiel im Vortrag als minimalistisches Raster zu einer homogenen neuen Sprache, die auf der prinzipiellen Untersuchung von Sprachelementen aufbaut. Das dabei verwendete Material legt die Bedingungen offen wie allgemein-sprachliche Werte [8] entstehen: Es soll versucht werden, der Produktion von Bedeutung durch Kontextverschiebung nachzugehen. Dabei wird aber nicht entlarvt, sondern den Bedeutungssprüngen durch Vermittlung gefolgt. Wahrheit, und das ist eine Behauptung, ist eine Interpretation.

Die Texte des MZK-Archivs, Statements zu den Themen Kunst, Künstlerin und Künstler, Rezipientin und Rezipient, Kunstkontext, Ausstellungskontext scheinen sich teilweise auf konkrete Präsentationen zu beziehen, sprechen aber von einer allgemeinen Präsentation, sie sprechen von jeder möglichen Präsentation. In diesem Sinn beziehen sich die Texte wie selbstverständlich auch auf die jeweils konkrete Präsentation Museum für zeitgenössische Kunst: Die Präsentation bespricht sich selber und redet von nichts anderem als von sich selbst. Die Rezipientinnen und Rezipienten spielen im MZK dabei eine besondere Rolle: Sie sind es, die die Kritik - interpretierend - auf den gegebenen Kontext anwenden. Sie sind es aber auch, die aus der Überfülle an angebotenen Texten letztlich ihren eigenen Text, ihre eigene Kritik der Präsentation formulieren: selbstverständlich nicht, ohne dabei von den Stereotypen einer gängigen Kunstkritik und -rezeption Gebrauch zu machen. [9]

Bei vermeintlicher Präzision sind die Auftritte des MZK reiner Zufall, vielleicht sind sie auch das Resultat einer unbewussten, unmittelbaren Ästhetisierung [10] eines wissenschaftlich anmutenden Prozesses. Die Arbeiten überzeugen bei virtuoser Handhabung der verwendeten Medien vor allem durch die Komplexität der Struktur und durch die technische Präzision der Umsetzung, wobei die Technik der künstlerischen Erfahrung immer untergeordnet ist. Die künstlerische Anordnung kreist um das Verhältnis von Bild und Sprache, das Interesse gilt der Philosophie und der Sprache [11], die das MZK nachhaltig beeinflussen: komplexe Bilder und Sprache als komplexer Text. Solche Werke sind vordergründig keine besonders komplizierten Arbeiten. Ihre Bedeutung fällt mit ihrer Form zusammen, oder ihre Form ist ihre Bedeutung. Diese Kunst interessiert eigentlich nichts Spezifisches, oder dann alles; sie entwindet sich dem Setzungscharakter des Ästhetischen. Solche Ausstellungen wirken karg und der Kontext konstruiert, so dass die Präsenz der Arbeiten effektiv zum willkürlichen Zusammentreffen gerät.

Im Internet soll aus dem MZK auf einer museumseigenen Homepage in einem weiteren Schritt eine Institution entstehen, die sich vordergründig in die Reihe anderer Kunstinstitutionen (auf dem Internet) nahtlos einreiht. [12] Die Spannung zwischen Kunst und Technik und das veränderte Verhältnis zwischen geistigkünstlerischem und funktionalem Gestaltungsanteil bilden dabei einen der Ausgangspunkte des Museums. Die Spannung zwischen dem Kunstobjekt und den darin angelegten Wirklichkeitsverweisen beleuchten einen zentralen Aspekt der Arbeit. Die Überblendung von autonomem Kunstwerk und technologischer Funktionalität verunsichert nicht nur den Kunstcharakter des Werkes sondern letztlich auch den Standort des Betrachters selbst.

Bei eingehender Betrachtung zeigt sich das MZK aber keineswegs als vermittelndes Projekt: Das Museum ist das Kunstprojekt.

Hier wird endlich einmal klar und deutlich die Frage nach dem Informationsgehalt der Sprache gestellt. Kunst verweist auf nichts als auf sich selbst [13] und behauptet für sich eine eigene autonome Wirklichkeit, die nur in aktiver Wahrnehmung erschlossen werden kann. Kunst ist eine öffentliche Tätigkeit, und doch ist nur was im spezifischen Kontext der Kunst verhandelt wird, letztlich Teil des Kunstsystems.

 

2. Kunst stellt Probleme

Das Problem einer zeitgenössischen Kunstproduktion ist, wie man zwischen dem Raum der Kunst und dem Alltagsbereich operiert. Eine zeitgenössische Kunstproduktion [14] muss heute zentrale gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeitsbereiche in den Kunstraum einspiegeln, muss eine neue heterotrope Kunst-Wirklichkeit fördern, eine Welt neben der Welt, in der die Kunstwerke selbst resozialisiert und in ihren kritischen und subversiven Potenzen erfahrbar werden, eine Kunstwelt, in der unscheinbare Sachverhalte, Fest- und Zuschreibungen unserer pluralen Wirklichkeiten hervorgeholt, gedoppelt oder nachhaltig befremdet werden. Kunst muss sich heute mit neuen Formen institutionskritischer, ideologiekritischer und sozial engagierter künstlerischer Praxis befassen und vor allem ihr künstlerisches Rollenbild reflektieren.

Bezug nehmend auf gesellschaftliche und kulturelle Gegebenheiten muss die Kunst unser Denken und Sein bestimmende Strukturen und Ordnungen untersuchen, wie sie sich vor allem innerhalb von öffentlichen Institutionen und Situationen als allgemeine Organisations- und Zuschreibungsformen ablesen lassen. [15]

Die traditionelle, sichere Box des Museums ist in Auflösung begriffen. Die Museen moderner und zeitgenössischer Kunst sehen sich in den durch die sogenannte digitale Revolution potenzierten Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung und Kommunikationstechnologie mit besonderen Herausforderungen und Problemen konfrontiert. Die technische Erneuerung stellt zugleich Bedeutung und Funktion tradierter Aufgabenbereiche wie Dokumentation, Inszenierung und Vermittlung vor dem Hintergrund des beschleunigten Wandels in Frage.

Der inhaltliche und formale Komplex, das motivische Repertoire einer wirklich zeitgenössischen Kunst ist auf Wahrnehmungs- und Denkmodelle [16], auf psychologische, soziale, ästhetische Eckwerte unserer öffentlichen Räume ausgerichtet, wozu letztlich auch der museale Vermittlungsrahmen gehört.

In einer Zeit, in der Kunst immer häufiger die Museen verlässt und in alternativen Räumen öffentliche Konfrontation sucht, interessiert nicht mehr das autonome, vorrangig formalistisch und in Bezug zu einer einzelnen Künstlerpersönlichkeit zu befragende Kunstwerk, sondern dessen inhaltliche und formale Einbindung an einen Ort - einen einmaligen, begrenzten Ort im wörtlichen Sinn, oder einen Ort im allegorischen oder funktionalen Sinn. Wie sehr Kunst nach Öffentlichkeit strebt, zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass Publikumsbefragungen - nicht nur bei den ernsthaft an öffentlichen Bedürfnissen interessierten Künstlern - zur Zeit Hochkonjunktur haben.

Solcherart interessierte Kunst denkt heute über sich selber, das heisst über ihre Themen und ihren Kontext nach. Dabei zeigt sich dann entweder die Lächerlichkeit des Kontextes von Kunstpräsentationen [17], oder aber der Kontext wird zur eigentlichen Arbeit. Dass diese Sichtweise die Kunst, sofern sie sich mit ihrem jeweils aktuellen Kontext beschäftigt, aus dem musealen Raum befreit und ihr neue Räume zubilligt, rührt von einer Wahrnehmungspraxis her, die bis dahin wenig beachtete Strukturen und Inhalte als plötzliches Aufleuchten neuer Sinnzusammenhänge und damit als aktuelle relevante Aussagen für die Gegenwart begreift. Der Künstler, der seine Inspiration aus der unmittelbaren Umgebung nimmt, ist dabei wesentlich auf sein neues Umfeld angewiesen. [18] Seine Werkzeuge und Materialien sind das zufällige Ergebnis aller sich bietenden Gelegenheiten, den Vorrat aus früheren Konstruktionen und Dekonstruktionen zu erneuern, ja, die Bild und Textwelt der Kunstgeschichte selbst wird bei dieser Praxis zum Fundus für eine aktuelle künstlerische Tätigkeit.

Zur Darstellung und Bearbeitung kontextfremder Themen als künstlerische Themen gehören heute neben den traditionellen Themen auch Möbeldesign, formale Gestaltung von Architekturelementen und effektvolle Event-Ausstattungen, die Ausstattung von Funktionsräumen wie Café und Bibliothek, oder auch Serviceangebote vom Katalog- bis zur Homepagegestaltung ebenso selbstverständlich in das Spektrum künstlerischer Arbeitsfelder.

Eine künstlerische Praxis, wie sie hier beschrieben wird, ist insofern eine Doppelbödige, als sie mit den gleichen Mitteln untergräbt, was sie als Werk konstituiert. Solche Kunst wendet sich gegen einen autonomen Kunstbegriff, indem sie ihre kontextuelle Abhängigkeit nicht verbirgt, sondern die Kunst gleichsam dazu bringt, ihre Bedingungen zu reflektieren.

Nur was im spezifischen Kontext der Kunst verhandelt wird, ist letztlich Teil des Kunstsystems. [19]

Gerade aus dieser weitgehend selbstreferentiellen Beschäftigung zeitgenössischer Kunst erwachsen letztlich auch die Möglichkeiten eines künstlerischen Umgangs mit Sprache. Indem Kunst mit, wenn auch äusserst reduzierten, Sprachmitteln arbeitet, mit einzelnen Wörtern, kurzen Aussagen oder Satzfragmenten, stellt sie sich in einen völlig neuen Kontext. Dabei geht es nicht darum die Sprache gegen das Bild auszuspielen oder sie in einen unreflektierten, kausalen Bezug zueinander zu setzen, vielmehr besteht ein enger Zusammenhang, indem nämlich versucht wird, narrative Aspekte auszublenden, die sprachliche Ebene völlig von ihrer Semantik zu trennen und allein auf den sprachlichen Gestus zu beschränken.

Ganz mit sich selbst beschäftigt, befasst sich die Kunst heute in diesem Zusammenhang auch mit der Rolle der Kritik, nicht nur mit der professionellen Kritik, sondern auch mit kritischen Positionen, die im Rahmen der verschiedensten Disziplinen zutage treten. Dabei ist allerdings nur die Kunst ist fähig, sich selbst zu kritisieren, indem sie ihre eigene Absurdität oder Paradoxität aufdecken kann. Die abstrakte Ordnung der Dinge will die Sprache überspringen. [20] Der sprachkritische, bildnerische Impuls richtet sich auf das, was jenseits der Sprache geschieht.

Im Zentrum solcher zeitgenössischer künstlerischer Praxis steht das Kompilieren. Das Kompilieren ist nicht eine Kunst der Bildherstellung sondern der Bildfindung und damit eine Absage an das Authentische und das individuell Hergestellte. Das Kompilieren als aktuelle künstlerische Tätigkeit ist eine Produktionsweise, die sich der Intention nach Einheitlichkeit und Essentiellem widersetzt und mit den Bruchstücken unserer Kulturindustrie operiert. Künstlerischer Umgang mit Sprache zielt weniger auf die linguistische als auf die soziologische Komponente von Sprache als Handlungsraum und Bedingung des Menschen.

Dabei wird auch klar und deutlich die Frage nach dem Informationsgehalt der Sprache gestellt. Am verwendeten Sprachmaterial können nicht zuletzt die Bedingungen offengelegt werden, unter denen Nachrichtenwerte entstehen: Beim Versuch, der Produktion von Bedeutung durch Verschiebung in der Medienöffentlichkeit nachzugehen [21], soll aber nicht entlarvt, sondern den Bedeutungssprüngen durch Vermittlung gefolgt werden. Wahrheit, und das ist eine Behauptung, ist eine Interpretation.

Erst bei präziserem Betrachten fügen sich die vorerst zusammenhangslosen Einzelteile schliesslich zu einem komplexen, ganzheitlichen System. Was sich zwischen den sprachlichen Gegensätzen abspielt, was sich als Spiel der Gegensätze - sie hervorbringend und auflösend - entfaltet, macht Kunst zu einer kommunikativen Kraft elementarer Stoffe, Zeichen und (individueller sowie kollektiver) Sinnbilder. Ihre Bedeutung fällt mit ihrer Form zusammen, oder ihre Form ist ihre Bedeutung. Diese Kunst interessiert eigentlich nichts Spezifisches, oder dann alles [22]; sie entwindet sich dem Setzungscharakter des Ästhetischen und bedient sich vordergründig ironischer Strategien, um die Oberflächen des schönen Scheins und des Trivialen gleichsam von hinten zu beleuchten. Geschickt wird jede Eindeutigkeit einer möglichen Botschaft unterlaufen.

Der stille Rezipient hat ausgedient und Kunst wird mehr denn je Einladung zum Spiel, zur spielerischen Aufforderung, die immer komplizierter werdenden Bezugssysteme zu durchbrechen, sich der eigenen Rolle als Rezipient und Rezipientin bewusst zu werden. Kunstbetrachtung ist weniger eine Sache des Urteilens, ob etwas gut oder schön ist, sondern vielmehr eine Sache des Lesens. Die Darstellung und Bearbeitung kontextfremder Themen als künstlerische Themen durchbrechen bei den Betrachtenden die gewohnten Orientierungssysteme und bringen die Kunst selbstreflexiv als System ins Bewusstsein. Dabei gerät auch die Rolle der Betrachtenden als Betrachtende ins Wanken. Nicht strenge Systematik, sondern ein Spiel intuitiver Regelhaftigkeit bestimmt die künstlerische Arbeit. Kunst verweist auf nichts als auf sich selbst und behauptet für sich eine eigene autonome Wirklichkeit, die nur in aktiver Wahrnehmung erschlossen werden kann. [23] Kunst wahrzunehmen heisst dabei nichts anderes als die angedeuteten Spuren aufnehmen und dabei zum Protagonisten in einem unbekannten Spiel werden.

Kunst ist nicht nur für die Kunstschaffenden der alltägliche Versuch der Vergegenwärtigung und Wirklichkeitsaneignung, vielmehr entsteht beim Publikum ein eigentliches Bedürfnis nach Kunst. Die Kunst rückt die Welt als eine Fülle visueller Fragmente vor Augen und konfrontiert die Betrachterin und den Betrachter mit dem Bedürfnis, die Kontingenz der verschiedenen Realitätssegmente in eine Ordnung und in ein Gleichgewicht zu bringen.

Kunst dient heute nicht nur der Schaulust und dem ästhetischen, also interesselos wohlgefälligen Blick [24], Kunst versucht heute einen professionellen Beitrag zur Entschlüsselung, das heisst zum Verständnis der Welt zu leisten. In ihrem steten Bestreben Sichtbarkeit herzustellen richtet sich Kunst vehement gegen eine formalisierte Weltsicht, sie zeigt vielmehr eine subversiv verführerische und ambivalente Sicht auf die Welt und von der Welt.

Zeitgenössische künstlerische Arbeit kann als ein Statement gegen die Inanspruchnahme von Kunst allgemein als Lieferant eines neuartigen, freundlicheren Weltbildes verstanden werden, das nun auch in der Kunst seinen Niederschlag finden und der Kunst selbst zu neuer Relevanz und Lebendigkeit verhelfen soll.

Kunst soll sinnlich sein und erholsam. Kunst soll ein Gefühl von Vertrautheit und Nähe vermitteln. Und doch bleibt die Frage, was von einem Kunstwerk als Idee, als visuelle Erinnerung bleibt, wenn es aus dem Blickfeld verschwindet.

 

 

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Anmerkungen zum Text

 

[1] Es gibt eine Vielzahl von Ebenen in denen Kontexte entstehen. [zurück zum Text]

 

[2] Das Publikum möchte vermehrt über das Gefühl und nicht über das analytische Verständnis angesprochen werden. [zurück zum Text]

 

[3] Alltag und Kunst, Isolation und Kommunikation, öffentlich und privat, das sind die Knotenpunkte, die innerhalb eines komplexen, vielschichtigen Systems zu besetzen sind. [zurück zum Text]

 

[4] Das MZK wendet sich gegen einen autonomen Kunstbegriff, indem sie seine kontextuelle Abhängigkeit nicht verbirgt, die Kunst also gleichsam dazu bringt, ihre - ungesicherten - Bedingungen zu reflektieren. [zurück zum Text]

 

[5] Die Kunst generell ist an einen Punkt gekommen, wo man um die Begriffe nicht mehr herumkommt. Man kann nicht mehr aus dem Unbewussten rein künstlerisch arbeiten. [zurück zum Text]

 

[6] Es scheint hier darum zu gehen die Erwartungen des Publikums zu brechen, nicht im Sinn einer Demontage des Herkömmlichen freilich, sondern als eine unvoreingenommene Verarbeitung all dessen, was da ist. [zurück zum Text]

 

[7] Kunstwerke sind keine isolierten Einheiten. [zurück zum Text]

 

[8] Die Kunst soll versuchen aufzuwerten und neue Bedeutungen zu verhelfen. [zurück zum Text]

 

[9] Die Kunst beschäftigt sich auch mit der Rolle, nicht nur mit der professionellen Kritik, sondern auch mit kritischen Positionen, die im Rahmen der verschiedensten Disziplinen zutage treten. [zurück zum Text]

 

[10] Die Aufgabe der Kunst ist wissenschaftlich nicht zu begründen. [zurück zum Text]

 

[11] Die bildnerische Logik ist nicht die der wissenschaftlichen Optik. [zurück zum Text]

 

[12] In der Kunst werden Techniken erprobt, welche die Entscheidungsgewalt und den Definitionswillen des Künstlers in Frage stellen. Der Gebrauch der unterschiedlichsten Medien artikuliert sich in zeitgenössischen Arbeiten als konsequente Haltung: Kunst, die vor allem aus der gewählten Technik und Methode hervorgeht. [zurück zum Text]

 

[13] In ihrer Gesamtheit lässt sich Kunst nicht entschlüsseln. [zurück zum Text]

 

[14] Ausstellungen zeitgenössischer Kunst zeigen Momentaufnahmen verschiedener Facetten einer kulturellen Produktion. [zurück zum Text]

 

[15] Bestehende Kontexte werden nach bestimmten Vorstellungen ständig reproduziert, und sind weit entfernt von Neuformulierung oder kritischer Reflektion über die gegebenen Strukturen, Abläufe, Ausgrenzungsprozesse und Wertsetzungen. [zurück zum Text]

 

[16] Die Verbreitung und Speicherung kultureller Informationseinheiten auf verschiedenen Maschinensystemen soll als Modellvorstellung der Forschung diskutiert werden. [zurück zum Text]

 

[17] Immer wieder wird versucht den Umgang mit Kunst anders, entsprechend ihrer Gegenwart zu verändern und neue Strategien zu präsentieren. [zurück zum Text]

 

[18] Zeitgenössische Kunst muss den ganzen, sonst ausgeblendeten Kontext ihrer Tätigkeit reflektieren und diesen zum eigentlichen Thema ihrer Arbeit machen. [zurück zum Text]

 

[19] Kunst kann nur als Kunst erkannt und rezipiert werden, wenn sie in ihrem Kontext als Kunst erkannt und dementsprechend besprochen wird. [zurück zum Text]

 

[20] Wenn der Kunst ein striktes System zugrunde liegt, so ist dieses doch nicht in sich selbst beschlossen. Immer schiebt sich die Lesbarkeit, die angebotene Projektionsfläche für Assoziationen, vor die Tatsächlichkeit einer künstlerischen Arbeit. [zurück zum Text]

 

[21] Die Bedeutung der Kunst jedoch erschöpft sich innerhalb der Kunst, für das wahre Leben ist sie nicht von Bedeutung. [zurück zum Text]

 

[22] Mehr als die Simulation interessiert die Vorstellung der Realität. [zurück zum Text]

 

[23] Die Kunst soll auf Bestehendes aufmerksam machen, den Alltag in ein neues Licht setzen und damit die vermeintliche Statik derjenigen Konstellationen durchbrechen, die unsere Vorstellung von Wirklichkeit prägen. [zurück zum Text]

 

[24] Wo Kunst im traditionellen Sinn den eingespielten Sichtweisen folgt und sich des gewohnten Formenvokabulars bedient, wirft zeitgenössische Kunst allgemein akzeptierte Ordnungsprinzipien über Bord. Formalismen interessieren nur insofern, als sie ermöglichen, ephemere Inhalte spürbar zu machen. [zurück zum Text]

 

 

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