Romy Günthart, Zettels Ordnung - Von Zettelkästen und vom Verzetteln

Text aus: Rutishauser/Kuhn. Spracharchive

 

 

Heute kennt man sie im Unterricht vor allem als Karteikästen, die dabei helfen sollen, Fremdwörter spielerisch leicht zu erlernen. Erfolg und Nichterfolg wird optisch sichtbar und handgreiflich, Lernen zum sinnlichen Erlebnis.
Als technische Hilfsmittel zur literarischen Bildung sind die Zettelkästen, wie sie früher genannt wurden, seit dem 15. Jahrhundert in Gebrauch. Sie wurden in der akademischen Ausbildung, die zu der Zeit noch stark der Mündlichkeit verhaftet war, vor allem zum Sammeln von Merksätzen und Beispielen genutzt. Die häufigste Anwendung fanden diese geordneten Zettel dann für die Verfertigung von Predigten. Nach einiger Zeit, wenn der Kasten gut eingerichtet war, ließ sich zu jedem beliebigen Thema das treffende Stichwort, die heitere Geschichte, das schreckliche Exempel finden und die gewünschte Rede in kurzer Zeit zusammenzimmern. Bezeichnenderweise legten besonders die protestantischen Praedikanten grossen Wert auf die Anlage solcher Sammlungen. Neben der Verwendung für die Homilie fanden diese intellektuellen Vorratskammern je länger je mehr auch im literarischen Sektor reiche Nutzung. So ist Jean Pauls "Leben des Quintus Fixlein" von 1796 "aus funfzehn Zettelkästen gezogen".
Im 19. Jahrhundert, zu Beginn der modernen Germanistik, dienten die Karteikästen dann vor allem dazu, Wörterbücher herzustellen und wissenschaftliche Arbeiten mit möglichst vielen Zitaten zu schmücken. Ging es vormals darum, aus den verschiedenen Zetteln, die sich im Laufe der Jahre in einem Kasten angesammelt hatten, immer neue, andere Texte zu schreiben und Reden zu halten, begann nun mit der Entstehung der Literaturwissenschaft überhand zu nehmen, was das Grimmsche Wörterbuch unter dem Eintrag "1verzetteln" anmerkt: "etwas inhaltlich zusammengehöriges in einzelzettel auflösen und in form einer kartei zusammenstellen und ordnen".
Lachmann freute sich keineswegs darauf, dass Haupt die Nibelungen zertreue und zur Unkenntlichkeit zerstückle. Er dachte auch nicht daran, daß sich die germanischen Völkerscharen aufsplittern sollten.Im Gegenteil! Er verwendet das Wort "verzetteln" wie es im Grimm 25,2565 definiert wird, wo es heisst: "beobachtungen, erkenntnisse auf zetteln festhalten; etwas inhaltlich zusammengehöriges in einzelzettel auflösen und in form einer kartei zusammenstellen und ordnen".
Die Verzettelung von Texten als Teil der wissenschaftlichen Arbeit war und ist nach wie vor gebräuchlich, auch wenn sie heute oftmals auf einem Kateikarten simulierenden Computerprogramm stattfindet.
Luther wünschte sich dafür unter anderem eine genaue Verzettelung der heiligen Schrift, die dann als Materialfundus genutzt werden könne.

 

 

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