Markus Landert. Einen Text lesen. Zu Inhalt und Form bei Rutishauser/Kuhn

Text aus: Rutishauser/Kuhn. Inhalt und Form (ID 5 bis 28)

 

 

Sie lesen einen Text. Siebzehn Buchstaben ergeben einen Satz. Und bereits sind es drei Sätze, die Sie gelesen haben. Das Lesen entwickelt sich fliessend vom einen zum nächsten. Buchstaben reihen sich scheinbar zwanglos zu Worten, zu Sätzen, Abschnitten und Texten. Beim Textlesen denken Sie nicht ans Lesen sondern an den Text, folgen den Worten und Sätzen bis sich die Inhalte zusammensetzen. Dies funktioniert solange ganz zwanglos, bis Sie Arbeiten von Rutishauser/Kuhn begegnen. Und dies tun Sie hier zwangsläufig, weil Sie einen Text über Rutishauser/Kuhn lesen.

In der Ausstellung Inhalt und Form (ID 5 bis 28) im Kunstmuseum des Kantons Thurgau legen Rutishauser/Kuhn Materialien und Strategien aus, die sie seit Beginn ihrer Zusammenarbeit 1990 verwenden. Zu sehen sind Materialien aus den Arbeiten ID 5 Schwarzmalen, ID 6 Endwerts, ID 12 Spracharchive, ID 14 Die Organisation der Sprache, ID 21 Polyglott, ID 24 Sieben Auswege, fünf Schriftplakate sowie ein Modell des Ausstellungsraums. Dieser Überblick verdichtet eine über Jahre reichende Beschäftigung der Künstler mit Sprache zu einem Konglomerat, das uns in seiner Dichte und Komplexität zuerst einmal nachhaltig überfordert und irritiert.

Rutishauser/Kuhn verwenden Sprachmaterial nicht wie Journalisten, Werbetexter oder Schriftsteller als Transportmittel von Inhalten, sondern sie befragen es als bildende Künstler auf seinen visuellen und akustischen, auf seinen ästhetischen Gehalt. Die Form der Sprache steht bei Rutishauser/Kuhn nicht im Dienste des Inhalts. Vielmehr wird die Form der Sprache zum eigentliche Inhalt. Sie lesen einen Satz und kommen nicht umhin, beim Lesen zuerst ans Lesen und dessen Bedingtheiten zu denken.

In der Arbeit ID 6 Endwerts zerlegten Rutishauser/Kuhn einen Satz in sechzig einzelne Buchstaben und malen diese auf Bildtafeln. Die sechzig Tafeln bilden das Material, das an verschiedenen Orten in Variationen gezeigt wurde. Meist formierten einige wenige Tafeln einzelne Worte, während die übrigen, nicht benutzen Tafeln alphabetisch geordnet am Boden lagen oder an der Wand lehnten. Sprache ist Material. Inhalte entstehen durch spezifisches Ordnen dieses Materials.

Im Kunstmuseum beziehen sich die gezeigten Tafeln auf die Vorstellung des Museums als traditioneller Ort der Bildpräsentation. Die Buchstaben KEIN lehnen an der Wand über dem Begriff BILD. Die übrigen Tafeln liegen alphabetisch gestapelt im Raum. Obwohl die Tafeln mit Pinsel und Farbe gemalt sind und durchaus als Malerei im Stile von Neo Geo gelten können, behaupten Rutishauser/Kuhn standhaft KEIN BILD. Zwischen dieser Behauptung und der sichtbaren Realität, zwischen dem Inhalt und seiner Präsentation im Museum baut sich ein Widerspruch auf, der sich als eines der wesentlichen Arbeitsfelder von Rutishauser/Kuhn erweist. Der Widerspruch verweist darauf, dass jeder Inhalt, jede Botschaft einen Träger benötigt, der - wenngleich kaum bewusst - immer als erstes wahrgenommen wird: Sie lesen einen Text. Aber bevor sie einen Text verstehen, sehen Sie Buchstaben, respektive Formen, die Sie als Buchstaben interpretieren. Sie sehen zuerst ein Bild, das durch Interpretation zum Zeichen wird. Ein Zeichen ist KEIN BILD und doch ein Bild.

Eine andere Ordnung ergibt einen anderen Inhalt: An der juryfreien Kunstausstellung in der Züspa Halle in Zürich 1993 zeigten Rutishauser /Kuhn ID 6.4 als einen über zwei Meter hohen Stapel mit Tafeln und den Buchstaben WERTE an der Wand. Der gewählte Begriff ironisierte ebenso wie die Stapelung eine Ausstellungssituation, in der hunderte von Künstlerinnen und Künstler ohne qualitative Einschränkungen ihre Arbeiten präsentieren. Hunderte von individuellen Kunst- und Wertsetzungen stossen aneinander und neutralisieren sich gegenseitig zu einer unüberblickbaren Masse. Der einzige Wert der noch Sicherheit bietet, ist die Zahl. Rutishauser/Kuhns Stapel erinnert an Lagerverkauf und unterläuft die Vorstellung vom Kunstwerk als kultureller Wert auf subtile Art und Weise.

Sprache wird nicht nur geschrieben sondern vor allem gesprochen und gehört. In ID 21 POLYGLOTT spielen Rutishauser/Kuhn auf fünf Lautsprechern gleichzeitig vier Texte ab. Der Begriff KONTEXTRAKTION steht wie eine Gebrauchsanleitung in grossen Lettern darüber: Wer verstehen will, ist gezwungen, aus dem Kontext des Klangbildes durch Nähertreten oder Konzentration einen einzelnen Text zu extrahieren. Und wieder sind wir mit einem unauflösbaren Dilemma konfrontiert. Wer sich auf einen einzelnen Text konzentriert, verliert zwangsläufig die anderen und damit das Ganze aus dem Blick- oder Hörfeld. Wer den Gesamtklang geniesst und das Stimmengewirr als dadaistische Lautpoesie aufnimmt, kann den einzelnen Texten nicht mehr folgen. Modellhaft wird zweierlei vorgeführt: Erstens: Wahrnehmung ist ganz offensichtlich mit einem Zwang zur Fokussierung, zur Selektion verbunden. Wer verstehen will, muss wählen. Sie haben sich entschieden, diesen Text zu lesen. Sie können nicht gleichzeitig etwas anderes lesen oder denken. Mit Ihrer Entscheidung bestimmen Sie das Material, das Sie aufnehmen und setzen einem offenen Angebot ihre Auswahl entgegen. Und zweitens: Wenn Wahrnehmen und Verstehen nur durch Selektion möglich ist, so ist ein Blick aufs Ganze - wenn überhaupt noch - nur indirekt möglich; als eine Synthese von Einzelansichten. Während Sie diesen Text lesen, schauen Sie nicht auf die Arbeiten von Rutishauser/Kuhn. Erst wenn Sie die Beschäftigung mit dem einen Text abgeschlossen haben, können Sie die Arbeiten von Rutishauser/Kuhn betrachten, den Stimmen aus den Lautsprechern lauschen, andere Texte lesen. In Ihrem Kopf entsteht eine Ordnung, setzt sich ein Bild zusammen: Sie verstehen.

Den Kern der Ausstellung Inhalt und Form bildet ein Modell des Museumsraums. In diesem Raum ist mit Material aus dem Fundus ID 5 bis 28 eine ganz andere Ausstellung realisiert. Das Material liegt in einer anderen Ordnung vor und kann aus einem ganz anderen Blickwinkel eingesehen werden. Wie wir Dinge verstehen, hängt damit zusammen, wo wir stehen. Plötzlich diese Übersicht sind wir versucht zu rufen, schweigen aber, weil die Übersicht auch nur einen Ausschnitt aus der Ausstellung umfasst, und weil der Blick ins Modell zeigt, dass offensichtlich noch eine Vielzahl anderer Ordnungen möglich wären. Andere Ordnungen ergeben andere Texte, andere Inhalte und die vermeintliche Übersicht ist nur eine von verschiedenen möglichen Lesarten.

Das Modell dient dazu, Bildmaterial für die Publikation zu produzieren, die Sie gerade lesen. Die Fotografien sind nicht Dokumentation, wie wir dies in einem Katalog erwarten würden, sondern Dispositive anderer möglicher Ausstellungen. Die Fotografien realisieren mögliche Ordnungen der Materialien und eröffnen unterschiedliche Lesarten. Für Sie, die Sie diese Publikation lesen, besteht zwischen den im Modell realisierten Ausstellungen und der real existierenden Ausstellung kein Unterschied. Sie lesen Texte und Bilder. Mit dem Ende der Ausstellung im Museum wird dieser Unterschied überhaupt aufgehoben sein. Dass eine Ausstellung eine andere Realisierungsform aufwies, wird nur noch als Erinnerung, als Erzählung greifbar sein. Auch dies ein Text, den Sie allenfalls lesen werden.

Vergleichbar verhält es sich mit den Plakaten mit Texten zur Kunst, die für und als Teil der Ausstellung Inhalt und Form (ID 5 bis 28) konzipiert wurden. Die Fotografien, die Sie hier in der Publikation sehen, zeigen ihre Verwendung bei einer Plakataktion im öffentlichen Raum. Diese Aktion hat allerdings nie stattgefunden. Die Orte gibt es und die Texte gibt es. Deren Kombination nur in Form der vorliegenden Fotografien. Für Sie, die Sie diesen Text lesen und für alle anderen ist dieser Unterschied, sofern es überhaupt noch einen Unterschied gibt, irrelevant. Im Zeitalter der virtuellen Realitäten transportiert die Realisierung von Wirklichkeit in einer Publikation, als Text also, alle nötigen Informationen. Oder vielleicht doch nicht? Ein Besuch im Museum kann allenfalls Antworten skizzieren. Hier hängen die Plakate an der Wand, physisch realisiert, in einem räumlichen Kontext, in den wir eintreten, in einem inhaltlichen Kontext, den wir beim Durchschreiten der Räume aufgenommen haben.

Auf den Plakaten lesen wir schlagwortartige Texte zur Kunst und deren Funktionieren in der heutigen Gesellschaft. Wir lesen: «Die Kunst generell ist an einen Punkt gekommen, wo man um die Begriffe nicht mehr herumkommt. Man kann nicht mehr aus dem Unterbewusstsein rein künstlerisch arbeiten.» «Das Publikum möchte vermehrt über das Gefühl und nicht über das analytische Verständnis angesprochen werden.» «Die Keimzellen künstlerischer Innovation liegen fast immer ausserhalb der Institutionen.» «Kunstbetrachtung ist weniger eine Sache des Urteilens, ob etwas gut oder schön ist, sondern vielmehr eine Sache des Lesens.» «Es ist immer das Sehen selbst, das das Gesehene überlagert.» Wer's nicht weiss, ahnt's zumindest: Die Texte stammen nicht von Rutishauser/Kuhn. Sie sind Kunstzeitschriften entnommen, aus einem Textkontext isoliert, in einen neuen Kontext gesetzt. Die Autorschaft von Rutishauser/Kuhn besteht in der Auswahl und die Neudefinition des Kontexts: «Neues lässt sich nur noch zusammensetzen.» «Der Kontext ist für die Kunst immer ein entscheidender Faktor.» Auch dies Sätze auf Plakaten von Rutishauser/Kuhn, Sätze von Rutishauser/Kuhn angeeignet.

Auswahl und Isolation verleihen den Texten zur Kunst eine Absolutheit in ihrem Anspruch, die Misstrauen und Widerspruch erzeugt. Die Offenlegung dieses Anspruchs ist der eigentliche Text von Rutishauser/Kuhn, den es zu lesen gilt. Der Text orientiert sich an der Frage: Was kann und darf wie gesagt werden? und führt zu einer differenzierten Begutachtung des gesamten Betriebssystems Kunst mit allen Aspekten von Inhalt und Form, von Text und Kontext: Am Ende ein Streit um die Sprache. Sie sind herzlich zur Lektüre eingeladen.

 

Der Text ist erschienen in: Rutishauser/Kuhn, Inhalt und Form (ID 5 bis 28), Farben Buchstaben Schriften, Arbeiten 1987 bis 1997. Thurgauische Kunstgesellschaft (Hrsg.), edition fink, Zürich 1998.

 

 

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Copyright by: Markus Landert, Frauenfeld 1998.    Aktueller Stand: 01.2000.    Kontakt unter: rkzuerich@access.ch