Markus Landert. Rutishauser/Kuhn, Arbeiten 1987 bis 1997

 

 

Kunstbetrachtung ist weniger eine Sache des Urteilens, ob etwas gut oder schön ist, sondern vielmehr eine Sache des Lesens.

Georg Rutishauser (*1963, lebt in Zürich) und Matthias Kuhn (*1963, lebt in Trogen) arbeiten seit 1987 zusammen. Ausgangspunkt ihres künstlerischen Schaffens ist die Sprache. Dabei verwenden sie Sprachmaterial nicht wie Journalisten, Werbetexter oder Schriftsteller als Transportmittel von Inhalten, sondern sie befragen es als bildende Künstler in Performances und Installationen auf seinen visuellen und akustischen Gehalt. Die inhaltliche Komponente der Sprache, die im Normalgebrauch den Hauptzweck des Sprechens oder des Schreibens bildet, wird bis in die Mitte der neunziger Jahre in den Hintergrund gedrängt zugunsten einer ästhetisch bestimmten Arbeit mit den Elementen ihres Funktionierens: den Buchstaben und ihren Formen, den Worten, den Textblöcken oder dem Klang der Silben, der Worte, der Sätze.

Die Kunst generell ist an einen Punkt gekommen, wo man um die Begriffe nicht mehr herumkommt. Man kann nicht mehr aus dem Unterbewusstsein rein künstlerisch arbeiten.

In der Arbeit «ID 16 Manifest, alfabetisch sortiert» aus dem Jahre 1994 werden fünf Manifesttexte über das Zusammenwirken von Text und Wahrnehmung in die einzelnen Worte zerlegt. Die Worte erscheinen alphabetisch sortiert und wie in einem Lexikon zu Wortlisten aufgereiht. Es entsteht eine Art Wörterbuch, in dem an der Wand des Ausstellungsraums das Textmaterial ausgebreitet, überblickbar gemacht und damit einem anderen Verständnis zugeführt wird. Vergleichbar gehen Rutishauser/Kuhn in der Arbeit «ID 12 Spracharchive» vor. Sechs Texte verschiedener Autorinnen und Autoren werden Wort für Wort zerlegt und alphabetisch neu geordnet in Zettelkästen abgelegt. Jeder Text bleibt zwar rekonstruierbar, zeigt sich aber vor allem als Materialpotential, das beliebig viele neue Textordnungen enthält.

Kunst verweist auf nichts als auf sich selbst und behauptet für sich eine eigene autonome Wirklichkeit, die nur in aktiver Wahrnehmung erschlossen werden kann.

In performativen Lesungen oder deren installativen Umsetzungen in den Ausstellungsraum weiten Rutishauser/Kuhn ihre Auseinandersetzung mit den Ordnungsgesetzen der Schriftsprache auf die akustische Sprachebene aus. In «ID 21 Polyglott», entstanden 1996, werden fünf verschiedene Texte aus fünf Lautsprechern verlesen. Im Raum entsteht ein vielfältiges Stimmengewirr und nur wer sich einem einzelnen Lautsprecher nähert, nur wer seine Aufmerksamkeit auf einen einzelnen Text konzentriert, kann diesem folgen. Auf der Wand steht der Begriff KONTEXTRAKTION. Dieses Kunstwort aus Kontext und Extraktion verweist auf das grundsätzliche Dilemma jedes Verstehens dieser Arbeit: Es ist nicht möglich, sie gleichzeitig in ihrer Vollständigkeit und im Detail zu verstehen. Wer sich auf einen einzelnen Text konzentriert, kann diesen zwar verstehen, enthält aber nur ein Extrakt aus dem Ganzen. Wer wiederum die Klangerscheinung der Arbeit - den Kontext jedes Einzeltextes- aufnimmt, dem entgeht zwangsläufig der Inhalt des einzelnen Textes. Jedes Lesen erzwingt eine Entscheidung zwischen Kontext und Extrakt.

Die Kunst denkt heute über sich selbst, das heisst über ihre Themen und ihren Kontext nach.

In der Arbeit «ID 28 Inhalt und Form (ID 5 bis 28)» im Kunstmuseum des Kantons Thurgau stellen Rutishauser/Kuhn 1997 Materialien aus älteren Arbeiten zu einem neuen Werk zusammen. Text-, Schrift-, und Präsentationsmaterialien von rund zwei Dutzend Einzelarbeiten werden zu einer neuen Installation verdichtet, in der sie mit dem Material ihrer eigenen Arbeiten vergleichbar umgehen wie mit dem Sprachmaterial. Die in früheren Ausstellungen verwendeten Buchstabentafeln, Wörtersammlungen, Texte, Lautsprecher und Monitore sind im Ausstellungsraum zu einem Archiv zusammengestellt, das alle einzelnen Arbeiten enthält und gleichzeitig eine neue Arbeit bildet. Je nach Fokussierung wird die Struktur der Sprache, die Möglichkeiten ihrer Erscheinung oder die Interaktion zwischen der Sprache, der Form ihrer Erscheinung und ihrer Wahrnehmung durch Rezipientinnen und Rezipienten zum Thema.

Die Kunst versucht auf das Publikum und dessen Leben einzuwirken.

Seit 1997 arbeiten Rutishauser/Kuhn an der Arbeit «Museum für zeitgenössische Kunst». Das MZK besteht aus einem Archiv, in dem Texteinheiten aus Kunstkritik und -theorie aus verschiedenen Publikationen isoliert und gesammelt werden. Während Rutishauser/Kuhn die Texte des 1994 erschienenen Tafelsatzes noch im Sinne eines Künstlermanifestes selber formulierten, handelt es sich bei den Beiträgen zum MZK um fremdverfasste Textsplitter, um Readymades, die die Künstler für ihre Arbeit instrumentalisieren. Die Zitate werden von Rutishauser/Kuhn in verschiedener Form in den engeren Kunstkontext zurückgeführt: Als Saalführer in einer Gruppenausstellung von Ostschweizer Künstlerinnen und Künstlern, als Eyecatcher in Inseraten für ein Museum, als Plakat im öffentlichen Raum, als Wandschrift und damit Kunstwerk in einer Gruppenausstellung, als Bildschirmpräsentation oder als Internetauftritt.

In einer zeitgenössischen Kunst ist der Kontext immer der entscheidende Faktor.

Die verwendeten Zitate formulieren schlaglichtartige Aussagen zur Kunst und ihrem Funktionieren in der heutigen Gesellschaft. Es sind Kurzbeiträge zur Bestimmung der Kunst, die - aus ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang entrissen - allesamt Behauptungscharakter annehmen. Das MZK besteht so im wesentlichen in der Besprechung seiner eigenen Tätigkeit. Es befasst sich mit nichts anderem als mit sich selbst. Der ewige Kreislauf, der auf diese Weise entsteht, führt das System und damit das Museum für zeitgenössische Kunst endgültig ad absurdum.

Der Betrachter muss sich die Frage stellen, inwieweit er im Bezug auf Werke zeitgenössischer Kunst andere Beurteilungskriterien als seine eigenen gelten lassen will.

 

 

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