Ferdinand de Saussure. Die Sprache; ihre Definition. Kreislauf des Sprechens. Sprache und Sprechen

Text aus: Rutishauser/Kuhn. Die Organisation der Sprache

 

 

Die Sprache; ihre Definition
Das sprachliche Phänomen zeigt stets zwei seiten, die sich entsprechen und von denen die eine nur gilt vermöge der andern. Zum Beispiel:
1. Die Silben, die man artikuliert, sind akustische eindrücke, die das Ohr aufnimmt, aber die Laute würden nicht existieren ohne die Stimmlagen: so besteht ein n nur durch die Entsprechung dieser beiden seiten. Man kann also die Sprache nicht auf den Laut zurückführen, noch den Laut von der Mundartikulation lostrennen; und entsprechend umgekehrt: Man kann die Bewegung der Sprechorgane nicht definieren, indem man absieht vom akustischen Eindruck.
2. Nehmen wir aber an, der Laut wäre eine einfache Sache: Würde dann der Laut die menschliche Rede ausmachen? Nein, er ist nur das Werkzeug des Gedankens und existiert nicht für sich selbst. Hier tritt eine neue Entsprechung auf, die tiefe und ungelöste Probleme in sich birgt: Der Laut, eine zusammengesetzte akustisch-stimmliche Einheit, die physiologisch und geistig ist. Und das ist noch nicht alles.
3. Die menschliche Rede hat eine individuelle und eine soziale Seite; man kann die eine nicht verstehen ohne die andere.
Ausserdem:
4. In jedem Zeitpunkt begreift sie in sich sowohl ein feststehendes System als eine Entwicklung; sie ist in jedem Augenblick eine gegenwärtige Institution und ein Produkt der Vergangenheit. Es erscheint auf den ersten Augenblick als sehr einfach, zwischen dem System und seiner Geschichte zu unterscheiden, zwischen dem, was sie ist und was sie gewesen ist; in Wirklichkeit ist die Verbindung, welche diese beiden Dinge ein, so eng, dass man Mühe hat, sie zu trennen. Oder wäre die Frage einfacher, wenn man das Phänomen der Sprache in seinen Ursprüngen betrachtete, wenn man zum Beispiel damit begänne, die Kindersprache zu studieren? Nein, denn es ist eine ganz falsche Vorstellung, dass in sprachlichen dingen das Problem des Ursprungs verschieden sei von dem der dauernden Zustände; man kommt also aus dem Zirkel nicht heraus.

Kreislauf des Sprechens
Um festzustellen, welches Gebiet die Sprache in der Gesamtheit der menschlichen Rede einnimmt, muss man sich den individuellen Vorgang vergegenwärtigen, welcher den Kreislauf des Sprechens darzustellen gestattet. Dieser Vorgang setzt mindestens zwei Personen voraus; das ist als Medium erforderlich, damit der Kreislauf vollständig sei. Wir nehmen also an zwei Personen, A und B, welche sich unterreden.
Der Ausgangspunkt des Kreislaufs liegt im Gehirn des einen, zum Beispiel A, wo die Bewusstseinsvorgänge, die wir Vorstellungen schlechthin nennen wollen, mit den Vorstellungen der sprachlichen Zeichen oder akustischen Bilder assoziiert sind, welche zu deren Ausdruck dienen. Stellen wir uns vor, dass eine gegebene Vorstellung im Gehirn ein Lautbild auslöst: Das ist ein durchaus psychischer Vorgang, dem seinerseits ein physiologischer Prozess folgt: Das Gehirn übermittelt den Sprechorganen einen Impuls, der dem Lautbild entspricht; dann breiten sich die Schallwellen aus dem munde des A zum Ohr des B hin: Ein rein physikalischer Vorgang. Dann setzt sich der Kreislauf bei B fort in umgekehrter Reihenfolge: Vom Ohr zum Gehirn, physiologische Übertragung des Lautbildes; im Gehirn psychologische Assoziation dieses Lautbildes mit den entsprechenden Vorstellungen. Wenn B seinerseits spricht, wird dieser neue Vorgang von seinem Gehirn zu dem des A genau denselben weg zurücklegen und dieselben aufeinanderfolgenden Phasen durchlaufen.

Sprache und Sprechen
Fassen wir die charakteristischen Merkmale der Sprache zusammen:
1. Sie ist ein genau umschriebenes Objekt in der Gesamtheit der verschieden gearteten Tatsachen der menschlichen Rede. Man kann sie lokalisieren in demjenigen Teile des Kreislaufs, wo ein Lautbild sich einer Vorstellung assoziiert. Sie ist der soziale Teil der menschlichen Rede und ist unabhängig vom einzelnen, welcher für sich allein sie weder schaffen noch umgestalten kann; sie besteht nur kraft einer Art Kontrakt zwischen den Gliedern der Sprachgemeinschaft. Andrerseits muss das Individuum sie erst erlernen, um das Ineinandergreifen ihrer Regeln zu kennen; das Kind eignet sie sich nur allmählich an. Sie ist so sehr eine Sache für sich, dass ein Mensch, der die Sprechfähigkeit verloren hat, die Sprache noch besitzt, sofern er die Lautzeichen versteht, die er vernimmt.
2. Die Sprache, vom Sprechen unterschieden, ist ein Objekt, das man gesondert erforschen kann. Wir sprechen die toten Sprachen nicht mehr, aber wir können uns sehr wohl ihren sprachlichen Organismus aneignen. Die Wissenschaft von der Sprache kann nicht nur der andern Elemente der menschlichen Rede entraten, sondern sie ist überhaupt nur möglich, wenn diese andern Elemente nicht damit verquickt werden.
3. Während die menschliche Rede in sich verschiedenartig ist, ist die Sprache, wenn man sie so abgrenzt, ihrer Natur nach in sich gleichartig: Sie bildet ein System von Zeichen, in dem einzig die Verbindung von Sinn und Lautzeichen wesentlich ist und in dem die beiden seiten des Zeichens gleichermassen psychisch sind.
4. Die Sprache ist nicht weniger als das Sprechen ein Gegenstand konkreter Art, und das ist günstig für die wissenschaftliche Betrachtung. obwohl die sprachlichen Zeichen ihrem Wesen nach psychisch sind, so sind sie doch keine Abstraktionen; da die Assoziationen durch kollektive Übereinstimmung anerkannt sind und ihre Gesamtheit die Sprache ausmacht, sind sie Realitäten, deren Sitz im Gehirn ist. Übrigens sind die Zeichen der Sprache sozusagen greifbar; die Schrift kann sie in konventionellen Bildern fixieren, während es nicht möglich wäre, die Vorgänge des Sprechens in allen ihren Einzelheiten zu photographieren; die Lautgebung eines auch noch so kleinen Wortes stellt eine Unzahl von Muskelbewegungen dar, die schwer zu kennen und abzubilden sind. In der Sprache dagegen gibt es nur das Lautbild, und dieses lässt sich in ein dauerndes visuelles Bild überführen. Denn wenn man von der Menge der Bewegungen absieht, die erforderlich sind, um es im Sprechen zu verwirklichen, ist jedes Lautbild [...] nur die Summe aus einer begrenzten Zahl von Elementen oder Lauten, die ihrerseits durch eine entsprechende Zahl von Zeichen in der Schrift vergegenwärtigt werden können. Diese Möglichkeit, alles, was sich auf die Sprache bezieht, fixieren zu können, bringt es mit sich, dass ein Wörterbuch und eine Grammatik eine treue Darstellung derselben sein können, indem die Sprache das Depot der Lautbilder und die Schrift die greifbare Form dieser Bilder ist.

 

Zitiert nach: Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Walter de Gruyter & Co., Berlin 1967.

 

 

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